Horizonterweiterung oder Grenzverschiebung?

Henry Hohmann ist Transaktivist und setzt sich seit über 10 Jahren für die Rechte von trans Menschen ein. Von 2012 bis 2018 war er Präsident bzw. Co-Präsident von Transgender Network Switzerland.

Am 30. September gab Ueli Maurer seinen Rücktritt bekannt und sagte, es sei ihm egal, ob ein Mann oder eine Frau seine Nachfolge anträte, «solange es kein «es» ist». Später gab er unter grossem Beifall seiner Parteigenoss*innen zu, dass dies eine bewusste Provokation gegenüber nicht-binären Menschen gewesen sei.

Am 17. Oktober erhielt der Roman «Blutbuch» von Kim de l’Horizon den deutschen Buchpreis, ein Ereignis, das nicht nur in den Feuilletons der deutschsprachigen Medien besprochen wurde, sondern sich durch alle Medien zog und in kürzester Zeit eine gesellschaftliche Relevanz erhielt, die ganz erstaunlich ist. Kim de l’Horizon ist erst die zweite Person aus der Schweiz, die den Buchpreis erhielt und dies mit einem Debütroman. Doch die Diskussion drehte sich vor allem um eines: Kim ist eine nicht-binäre Person, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht vollständig zuordnet. Das gab es in der Tat noch nie und erfreut viele Menschen, die Vielfalt in der Literatur schätzen. 

Während sich die ersten Medienberichte vor allem auf den Roman, seinen Inhalt und seine Sprache fokussierten und die literarische Qualität hervorhoben und sich um korrekte Pronomen für Kim bemühten, schossen sich andere Medien und vor allem ihre Kommentator*innen bald auf das Thema von Kims Nonbinarität ein, fanden die Wahl ein Zugeständnis an eine laute Minderheit und bezweifelten die literarische Leistung. Als sich Kim de l’Horizon dann zwei Tage später in einem bemerkenswerten Artikel in der NZZ unter anderem zur Bemerkung Ueli Maurers äusserte und ihn zu einem persönlichen Gespräch einlud (was durch Maurer abgelehnt wurde), wurde eine Welle von transfeindlichem Hass losgetreten: So wurde eine Vorlesestunde für Kinder, die Drag Story Time, in Zürich von rechtsradikalen Personen massiv gestört. Oder nach einer Podiumsdiskussion wurde eine lesbische Lehrerin von mehreren Männern massiv queerfeindlich bedroht und u.a. gesagt, dass man «Jagd auf trans Menschen» machen würde. 

Die Auseinandersetzung mit Kims Roman hat als Nebenprodukt sehr viel für die Sichtbarkeit von nicht-binären Menschen geleistet. Erstaunlich, wie vielen Medien es gelungen ist, die sprachliche Binarität zu überwinden und wie viele Menschen vielleicht so erstmals bewusst eine nicht-binäre Person wahrgenommen haben. Doch die Kehrseite gibt es eben auch: Durch Ueli Maurers explizit als populistische Provokation benannte «Es»-Äusserung scheinen sich Grenzen verschoben zu haben, die längst über beleidigte und beleidigende Medienkommentare hinausgehen. Jetzt sind Verunglimpfung, Hass und Gewalt gegenüber queeren, insbesondere trans Menschen gesellschaftsfähig und werden nicht mehr am Computer, sondern auf der Strasse ausgetragen. 

Dass einer der höchsten Politiker der Schweiz diese Entwicklung zwar nicht angestossen, aber provokant unterstützt und damit auf eine neue Ebene des Sag- und Machbaren gehoben hat, ist verantwortungslos. Und die Auswirkungen auf die queere, insbesondere trans Community sind nicht absehbar.